Intendant Aron Stiehl in der Kulturzeitschrift Die Brücke (Nr. 38, Okt-Nov 2023) über das rauschhafte Wesen des Theaters: »Wie in einem Club kommen im Theater hunderte Menschen zusammen, um ein Gemeinschaftserlebnis zu haben. Die Sehnsucht nach der Verschmelzung, dem Einswerden und Untergehen in der Masse, der »großen Kommunion« ist groß.«
Sind es Wellen
sanfter Lüfte?
Sind es Wogen
wonniger Düfte?
Wie sie schwellen,
mich umrauschen,
soll ich atmen,
soll ich lauschen?
Soll ich schlürfen,
untertauchen?
Süß in Düften
mich verhauchen?
In dem wogenden Schwall,
in dem tönenden Schall,
in des Welt-Atems
wehendem All —
ertrinken,
versinken —
unbewusst —
höchste Lust!
Wagner, Tristan und Isolde
Eigentlich ist Frau Hornböck von der Kulturabteilung – die ich sehr verehre – schuld an diesem Artikel.
Sie würde sich freuen, wenn ich, als Experte sozusagen, etwas über Rausch
und Drogen schreiben könnte … Ich war etwas konsterniert. Woher wusste sie von meinen Besuchen im berühmt-berüchtigten Berliner Club Berghain?
Nein, sie meinte natürlich das »Rauschhafte« (im eigentlichen und übertragenen Sinne) in Theater und Tanz im Zusammenspiel mit der Musik. Also das dionysische Element im Bereich des Theaters. Aber so einfach kam ich nicht aus der Bredouille. Denn meine Besuche in der Berliner Szene sind von meinen Theatererlebnissen schwer zu trennen, dafür gibt es zu viele Gemeinsamkeiten.
Ich muss jetzt ein Geständnis machen. Ich hatte eine Drogenerfahrung. Eine »echte«. Wenn auch unfreiwillig. Im besagten Berghain. Jemand hatte mir etwas ins Getränk getan. Oder hatte ich das Getränk verwechselt? Ich weiß es nicht.
Jedenfalls waren es keine K.-o.-Tropfen. Ich war, anders als bei Alkohol, bei klarem, vollem Verstand. Ich kann mich an alles ganz genau erinnern. Trotzdem bekam ich anfangs Panik. Gott sei Dank war ich nicht allein und sagte zu meiner Begleitung, dass sie bitte auf mich aufpassen solle. Ich wusste ja nicht, wohin diese Reise führen sollte.
Dann ließ ich mich fallen und gab mich diesem Erlebnis hin. Es war, wie wenn ein Flugzeug abhebt … Und ich bin abgehoben. Ich habe Wagners: »Zum Raum wird hier die Zeit«, nie verstanden. Bis zu diesem Moment. Zeit und Raum lösten sich auf und verbanden sich zur Raumzeit. Unfassbar. Unbeschreiblich. Faszinierend. Es war genauso, wie beim obigen Tristan-Zitat.
Ich gebe es zu: Dieses Erlebnis war eine Bereicherung – aber auch erschreckend, weil so mächtig.
Es war im wahrsten Sinne des Wortes überwältigend. Aber freiwillig hätte ich es nicht gemacht und will es auch nicht wieder erleben. Es hätte auch schiefgehen können. Gott sei Dank war ich gut betreut.
Nie wieder, also. Aber ich verstehe jetzt, wie einige Kunstwerke, die man nicht missen möchte, entstanden sind, zum Beispiel von Kirchner, Warhol, Cocteau, Wilde oder van Gogh.
Nun, ich habe mir zumindest kein Ohr abgeschnitten und bin heil aus dieser Geschichte herausgekommen. Eine Erfahrung mehr.
Allerdings frage ich mich jetzt, ob Wagner nicht auch … Sein Freund Ludwig II. war kokainabhängig … Wer weiß, was der gute Richard alles ausprobiert hat, um zu einem höheren Wissen zu gelangen … Wie hätte er sonst solche Werke schreiben können?
Das ist nicht zu klären. Aber wie steht dieses Erlebnis im Verhältnis zu meinen wirklich teils rauschhaften Theatererfahrungen?
Als ich anfing, ins Theater zu gehen, und mir viele Opern wiederholt anschaute (Rekord war 14-mal Zauberflöte in einer Spielzeit), machte sich meine Mutter ernsthaft Sorgen: »Der Junge ist nicht normal«. Nun – sie hatte recht. Auch wenn Normalität, wie immer man diese auch definieren mag, bei einigen Menschen wieder eine größere Rolle spielt, bin ich froh, nicht normal zu sein. Sie meinte, Musik sei eine Droge und ich solle nicht zu viel davon hören.
Im Gegensatz zum Erlebnis im Berghain, welches am Folgetag keinerlei Nachwirkungen zeigte, hatte ich nach meinem ersten Tristanbesuch in der Hamburgischen Staatsoper zwei Wochen lang stärkste Nachwirkungen – so intensiv wirkte die Musik Wagners auf mich. Ich konnte kaum reden, war sprachlos. Im wahrsten Sinne im Rausch. Ich schwebte durch
Hamburg und war auf einem ganz anderen Stern als meine Mitmenschen.
Noch heute wirkt Wagners Musik (sowie viele Komponisten der Spätromantik) berauschend auf mich. Wenn ich Wagner probe, sind das in der Regel 6–8 Stunden Wagnermusik am Tag. Das ist nicht so einfach auszuhalten und auch nicht gesund, da die Musik wie ein Vampir an einem saugt und die Lebenskräfte raubt – trotzdem oder gerade deswegen kommt man nur schlecht von diesen verführerischen Klängen los. Die Gefahr der Abhängigkeit ist groß.
Im Gegensatz zum Barock oder der Klassik in ihren klaren Formen löst die romantische Musik die Struktur mehr und mehr auf. Sie liebäugelt mit der Nacht, dem Dunkel, dem Geheimnis. Die romantische Musik unterhält eine enge Beziehung zum Tod. Zu dieser »anderen« Welt. Thomas Mann würde es eine geistige Sympathie mit dem Tode nennen.
Gewisse Musik kann ich zuhause nicht hören, da sie mir zu stark ist, ich in einen dunklen Tunnel gezogen werde. Nach einem Wagnertag sind Bach oder Mozart als Entgiftung sehr hilfreich. Ich komme auf normale Gedanken und sehe wieder Licht.
Aber beide Seiten sind wichtig im Leben: Der Tag und die Nacht. So wie das Leben und der Tod.
Und davon handelt das Theater. Wie in einem Club kommen im Theater hunderte Menschen zusammen, um ein Gemeinschaftserlebnis zu haben. Die Sehnsucht nach der Verschmelzung, dem Einswerden und Untergehen in der Masse, der »großen Kommunion« ist groß. Das Aufgeben der eigenen Individualität, Sich-Fallen-Lassen im Erlebnis – da
gibt es wenig Unterschied in den Religionsfeiern, im Club oder im Theater. Sich selbst vergessen, die Zeit anhalten … darum geht es.
Aber diese Erlebnisse können nicht nur schön, sondern auch gefährlich sein, weil oft das eigene Denken im Rausch ausgeschaltet wird und man manipuliert werden kann. Oder/und sich gar selber aufgibt. Man sieht das bei den Veranstaltungen der Nazis, die ihre Politikveranstaltungen als quasireligiös-rauschhafte Ereignisse inszeniert hatten, wo der Mensch in der Masse unterging. Das fatale Ergebnis kennt man.
Das Ganze ist eine Gratwanderung.
Mann beschreibt das im Zauberberg so:
Das war eine Frucht, die frisch und gesund eben noch … außerordentlich zu Zersetzung und Fäulnis neigte – und reinste Labung des Gemütes im rechten Augenblicke genossen, vom nächsten unrechten Augenblicke an, Fäulnis und Verderben in der genießenden Menschheit verbreitete. Es war eine Lebensfrucht, vom Tode gezeugt und todesträchtig. Es war ein Wunder der Seele – jedoch mit Misstrauen zu betrachten. Und Gegenstand der Selbstüberwindung nach letztgültigem Gewissenspruch. Ja, Hans Castorps Gedanken gingen hoch, während er in Nacht und Einsamkeit vor seinem gestutzten Musiksarge saß. Sie gingen höher, als sein Verstand reichte. Oh, er war mächtig, der Seelenzauber. Wir alle waren seine Söhne … und Mächtiges konnten wir ausrichten auf Erden, indem wir ihm dienten. Die Welt damit unterwerfen, sogar Reiche darauf gründen; – Irdische, allzu irdische Reiche. Aber sein bester Sohn mochte doch derjenige sein, der in seiner Überwindung sein Leben verzehrte und starb. Auf den Lippen das neue Wort der Liebe, das er noch nicht zu sprechen wusste.
Aron Stiehl
Intendant des Stadttheaters Klagenfurt